- Podiumtempel: Ein etruskisches Erbe
- Podiumtempel: Ein etruskisches Erbe509 v. Chr. vertrieben die Römer ihre etruskischen Könige und führten eine republikanische Staatsform ein. In dieser Zeit oder kurz danach wurde der älteste etruskische Tempel Roms systematisch zerstört; er lag am Fuß des Kapitols bei der heutigen Kirche Sant'Omobono nahe am Forum Boarium, dem wichtigen Markt am Tiberhafen, wo sich griechische und etruskische Kaufleute trafen. In Schichten unter den später an gleicher Stelle neu gebauten Tempeln fand man Mauer- und Skulpturenreste beider Bauphasen dieses alten Tempels, die durch Beifunde um 570 und 530 v. Chr. in die Zeit des Königs Servius Tullius datiert werden können. Auch von dem größten etruskischen Tempel - dem Jupiter-Tempel auf dem Kapitol, dem bedeutendsten Tempel der offiziellen römischen Staatsreligion - sind nur Mauerreste erhalten. Sein Grundriss und Aufbau lassen sich nur sehr vage rekonstruieren. Dieser Tempel wurde der Überlieferung nach von König Tarquinius Superbus gebaut, aber erst nach dessen Vertreibung um 509 v. Chr. von einem der beiden Konsuln, den seit dieser Zeit höchsten Staatsbeamten, den Göttern Jupiter, Juno und Minerva geweiht. Wie die seitlichen Säulenreihen auf dem etruskischen Podium zeigen, verband dieser Bau, der zum Vorbild für viele nachfolgende Tempelbauten wurde, Elemente der griechischen und der etruskischen Architektur.Die typisch etruskisch-römischen Tempel aber, die der römische Architekt Vitruv »tuskanisch« nennt und ausführlich beschreibt, lassen sich an mehreren Orten erst in der frühen Republik gegen 480 v. Chr. nachweisen: Ihr eigentliches Gebäude ohne seitliche und rückwärtige Säulen stand auf einem 1 bis 4 m hohen Podium, war beinahe so breit wie lang und hatte eine geschlossene Rückwand. Der Tempel konnte somit nur von einer Seite her über eine große, vor dem Podium gelegene Treppe betreten werden. In seinem Inneren gab es drei Räume (cellae) oder eine Cella mit je einem Flügelraum (ala) zur Seite. Vor den Cellae befand sich eine tiefe Vorhalle mit zwei oder drei Säulenreihen. Die Säulen bestanden ursprünglich aus Holz, die Wände aus ungebrannten Lehmziegeln; letztere waren zum Schutz vor Regen mit reliefverzierten Terrakottaplatten verkleidet. Auf dem Dachfirst standen bunt bemalte Terrakottafiguren.Im Gegensatz zu diesen tuskanisch-römischen Tempeln standen griechische Tempel auf einem Stufenunterbau und waren meist ringsum von Säulenhallen umgeben, die über die Stufen von allen Seiten her betreten werden konnten; bei ihnen waren sowohl die Tempelfront als auch die Rückseite architektonisch betont. Als die Römer nach der Eroberung Siziliens und der Expansion in den Osten ab etwa 200 v. Chr. mehr und mehr Kulturgüter von den Griechen übernahmen, wurden auch solche »griechischen« Tempel in Rom beliebt und von griechischen Architekten errichtet. Auf dem Forum Boarium ist zum Beispiel der Rundtempel des Herkules (um 120 v. Chr.) erhalten geblieben. Bei dem danebenliegenden Tempel des Gottes Portunus wurden allerdings das römische Podium und die geschlossene Rückwand beibehalten. Seine Cella nimmt die gesamte Podiumsbreite ein, ist aber mit einem griechischen Säulenkranz geschmückt. Um dies zu erreichen, baute der Architekt nur Halbsäulen unmittelbar an die Längswände der Cella und an die Rückwand.Für römische Tempel blieb das Podium noch lange Zeit charakteristisch. Seine Bedeutung und die Entstehung erklärt die neuere Forschung als Relikte uralter Zeremonielle: In vorgeschichtlicher Zeit fanden Kulthandlungen unter freiem Himmel in einem geheiligten Bezirk (templum) statt. Dieser Bezirk musste immer zuerst von den Priestern nach bestimmten Riten abgesteckt und durch magische Besprechung von allen Übeln befreit und so geheiligt werden. In späterer Zeit wurde auf diesem Bezirk zum Schutz für das Kultbild ein Tempelgebäude (aedes) errichtet, dessen Podium nun gewissermaßen diesen herausgehobenen und jetzt für alle Zeiten von Übeln befreiten Bezirk darstellte, der für immer von der Gottheit eingenommen wurde.Auf jeden Fall verband sich mit dem Podiumtempel bis in die Kaiserzeit das Bewusstsein alter etruskisch-römischer Tradition. Augustus nutzte dies systematisch für seine Ziele: Er schmückte den Podiumtempel (zum Beispiel den Apoll- Sosianus-Tempel) mit originalen griechischen Skulpturen und den erweiterten Tempelbezirk (am Augustus-Tempel) sowohl mit nach Rom gebrachten griechischen Statuen und Gemälden als auch mit genauen Kopien griechischer Skulpturen (der Karyatiden vom Erechtheion auf der Akropolis), deren Bildaussage er aber insgesamt in seinem Sinne umdeutete. So vereinnahmte er die Tempelarchitektur in Rom wie in den Provinzen für die neue Staatsideologie.Dr. Dorothea MichelBianchi Bandinelli, Ranuccio: Rom, das Zentrum der Macht. Die römische Kunst von den Anfängen bis zur Zeit Marc Aurels. Aus dem Italienischen übersetzt von Marcell Restle. München 1970.Coarelli, Filippo: Rom. Ein archäologischer Führer. Aus dem Italienischen. Freiburg im Breisgau u. a. 41989.
Universal-Lexikon. 2012.